Diagnose von Zwangsstörungen

Im Laufe des Lebens leidet etwa 1 bis 3 Prozent der Bevölkerung unter einer Zwangsstörung im eigentlichen Sinne. D.h. in der Schweiz sind ca. 100.000 bis 200.000 Menschen betroffen. Die Zwangsstörung ist eine psychische Erkrankung, die Männer und Frauen etwa gleich häufig betrifft. Der Beginn der Erkrankung liegt meist in der Kindheit oder im jungen Erwachsenenalter, selten nach dem 40. Lebensjahr. Die Mehrzahl der Zwangsstörungen nimmt unbehandelt einen chronischen Verlauf. Umso wichtiger sind das frühzeitige Erkennen der Symptome und die richtige diagnostische Einschätzung.

Diagnostischer Prozess

Der diagnostische Prozess bei Zwangsstörungen umfasst eine sorgfältige Anamnese, eine klinische Untersuchung und gegebenenfalls ergänzende Untersuchungen. Die Diagnostik richtet sich nach einem der anerkannten internationalen Klassifikationssystemen. Dabei wird geprüft, ob die vorhandenen Symptome die Kriterien der Diagnose einer Zwangsstörung erfüllen. Die wichtigsten Schritte im diagnostischen Prozess sind:

Eine sorgfältige Anamnese ist die Grundlage für die Diagnose einer Zwangsstörung. Dies umfasst eine genaue Schilderung der Krankheitsgeschichte, mit Fokus auf die Symptome, deren Beginn, mögliche Ursachen, Verlauf und bisherige Behandlungsversuche. Dabei ist insbesondere auf die Schwere der Symptomatik und auf die daraus resultierenden Einschränkungen im Alltag, Sozialleben und Beruf sowie möglicherweise entstandenen Komorbiditäten zu achten.

Eine klinische Untersuchung kann helfen, andere Erkrankungen auszuschliessen, die ähnliche Symptome wie eine Zwangsstörung haben. Die klinische Untersuchung umfasst ein ausführliches Screening psychopathologischer Symptome sowie eine körperliche und neurologische Untersuchung.

Psychologische Tests, wie z.B. Fragebögen oder Verhaltensbeobachtungen, können helfen, die Schwere der Symptome und die Auswirkungen auf das tägliche Leben zu beurteilen. Die häufigsten eingesetzten Tests sind der HZI (Hamburger Zwangsinventar als Selbstrating) und den Y-BOCS (Yale-Brown Obsessive Compulsive Scale als Fremdrating).

Eine Differenzialdiagnose kann helfen, andere Erkrankungen auszuschliessen, die ähnliche Symptome wie eine Zwangsstörung haben. Zwanghaft anmutende Symptome können bei diversen Störungsbilder vorkommen, beispielweise:

  • Depression: in Form von Grübeln
  • Essstörung: in Form von ritualhaften Umgang mit Nahrungsmitteln
  • Psychotische Erkrankungen: Verhaltensrituale

Zwangsstörungen treten oft gemeinsam mit anderen psychischen Erkrankungen auf. Die häufigsten Komorbiditäten sind Angststörungen (z.B. Soziale Angststörung, Panikstörung), Depressionen, Essstörungen (z.B. Anorexie, Bulimie), Persönlichkeitsstörungen (z.B. Borderline-Persönlichkeitsstörung), Substanzabhängigkeit und Tic-Störungen.

Anerkannte Klassifikationssysteme

Die Klassifikationssysteme dienen der standardisierten Diagnose und Beschreibung von Erkrankungen. Zur Diagnose von Zwangsstörungen wird aktuell die internationale ICD-Klassifikation der WHO genutzt, wovon aktuell die 10. und 11. Version in Gebrauch sind. International gebräuchlich ist zudem das diagnostische Manual der Amerikanischen Psychiatrischen Gesellschaft (APA), genannt DSM, welche aktuell in der 5. Version vorliegt.

Die Internationale Klassifikation der Krankheiten (ICD-10) beschreibt Zwangsstörungen im Kapitel F42.

Diagnosekriterien nach ICD-10

  • Zwangsgedanken (ICD-10 F42.0): Unerwünschte Gedanken, Impulse oder Vorstellungen, die als unangenehm und quälend erlebt werden. Betroffene erkennen diese Gedanken als unsinnig, versuchen aber erfolglos, ihnen zu widerstehen.
  • Zwangshandlungen (ICD-10 F42.1): Wiederholte Handlungen oder Rituale, die zur Reduktion von Angst oder zur Vermeidung eines befürchteten Ereignisses ausgeführt werden. Sie werden als übertrieben oder sinnlos wahrgenommen.
  • Gemischte Zwangsgedanken und -handlungen (ICD-10 F42.2): Betroffene erleben eine Kombination aus Zwangsgedanken und Zwangshandlungen.

Die Zwangsgedanken oder -handlungen oder beides sollen wenigstens 2 Wochen nachweisbar sein, müssen quälend sein oder die normale Aktivität stören. 

Die Zwangssymptome weisen folgende Merkmale auf:

1. Sie werden als eigene Gedanken oder Impulse erkannt.
2. Mindestens gegen einen Gedanken oder einer Handlung wurde Widerstand geleistet, dies kann erfolglos sein.
3. Der Gedanke oder die Handlung sind an sich nicht angenehm.
4. Die Gedanken oder Handlungen wiederholen sich in unangenehmer Weise.

Ausschluss der Diagnose: Vorliegen einer zwanghaften Persönlichkeitsstörung.

Das Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders (DSM-5) beschreibt Zwangsstörungen im Kapitel 300.3 und wird häufig im angelsächsischen Raum verwendet.

Diagnosekriterien nach DSM-5

  • Zwangsgedanken: Aufdringliche, wiederkehrende Gedanken oder Impulse, die erhebliche Angst oder Stress auslösen. Die betroffene Person versucht, diese Gedanken zu ignorieren oder zu neutralisieren.
  • Zwangshandlungen: Wiederholte Verhaltensweisen oder mentale Handlungen, die als Reaktion auf Zwangsgedanken ausgeführt werden, um Stress zu reduzieren oder ein gefürchtetes Ereignis zu verhindern. Diese Handlungen stehen jedoch in keinem realistischen Zusammenhang mit dem befürchteten Ereignis und sind oft übertrieben.

Der DSM-5 unterscheidet ebenfalls den Grad der gegebenen Einsicht in die Zwangsproblematik (“gute Einsicht” bis “keine Einsicht”).

Der DSM-5 nimmt zusätzlich Zwangsspektrumsstörungen under dem Kapitel: “Zwangsstörung und verwandte Störungen” mit auf. 

Die neueste Version der ICD-Klassifikation und beschreibt Zwangsstörungen im Kapitel 6B40. 

Der ICD-11 unterscheidet nicht mehr zwischen Zwangsgedanken und Zwangshandlungen. Eine Unterteilung der Diagnose ergibt sich anhand der Beurteilung der Krankheitseinsicht. Einsichtsfähigkeit beschreibt das Bewusstsein einer Person für ihre psychischen Probleme oder Verhaltensweisen. Bei Zwangsstörungen bedeutet dies, dass Betroffene erkennen, ob ihre Zwangsgedanken und -handlungen übertrieben oder irrational sind.

  • Zwangsstörung (6B20): Die Zwangsstörung ist durch das Vorhandensein von anhaltenden Zwangsvorstellungen oder Zwangshandlungen oder in den meisten Fällen durch beides gekennzeichnet. Zwangsvorstellungen sind sich wiederholende und anhaltende Gedanken, Bilder oder Impulse, die sich aufdrängen und unerwünscht sind und in der Regel mit Ängsten einhergehen. Der Betroffene versucht, die Zwangsvorstellungen zu ignorieren oder zu unterdrücken oder sie durch die Ausübung von Zwangshandlungen zu neutralisieren. Zwangshandlungen sind sich wiederholende Verhaltensweisen, einschließlich sich wiederholender geistiger Handlungen, zu denen sich der Betroffene als Reaktion auf eine Obsession nach starren Regeln oder zur Erlangung eines Gefühls der "Vollständigkeit" gezwungen fühlt. Damit eine Zwangsstörung diagnostiziert werden kann, müssen die Zwangsvorstellungen und Zwänge zeitaufwendig sein (z. B. mehr als eine Stunde pro Tag in Anspruch nehmen) oder zu erheblichem Leidensdruck oder zu erheblichen Beeinträchtigungen in persönlichen, familiären, sozialen, schulischen, beruflichen oder anderen wichtigen Funktionsbereichen führen.
  • Zwangsstörung mit mittelmässiger bis guter Krankheitseinsicht (6B20.0): Alle definitorischen Voraussetzungen der Zwangsstörung sind erfüllt. Die meiste Zeit ist der Betroffene in der Lage, die Möglichkeit in Betracht zu ziehen, dass seine störungsspezifischen Überzeugungen nicht wahr sind, und ist bereit, eine alternative Erklärung für seine Erfahrungen zu akzeptieren. Zu bestimmten Zeiten (z. B. wenn sie sehr ängstlich ist) zeigt die Person möglicherweise keine Einsicht.
  • Zwangsstörung mit schlechter bis fehlender Krankheitseinsicht (6B20.1): Alle definitorischen Voraussetzungen einer Zwangsstörung sind erfüllt. Der Betroffene ist die meiste oder die ganze Zeit davon überzeugt, dass die störungsspezifischen Überzeugungen wahr sind, und kann keine alternative Erklärung für seine Erfahrungen akzeptieren. Der Mangel an Einsicht, den der Betroffene an den Tag legt, variiert nicht merklich in Abhängigkeit vom Angstniveau.